[04.05.2023]
Du sagst, ich setze dich unter Druck. Ich sage: „Ich lege den Finger in die Wunde“. Du sagst, du willst objektiv sein. Ich sage: „Ich bin kein Objekt“. Du sagst, du erinnerst mich an zu viel Schlechtes. Doch wenn du Du sagst, sagst du in Wirklichkeit Ich.
Sollte am Ende an der Wurzel (& damit am Anfang) unseres Konflikts eine große Verwechslung liegen? Eine Art ursprünglicher Austausch, dem ich durch die Analysen unserer Gespräche, durch das Wieder-und-Wieder-Lesen der Protokolle unserer schriftlichen Korrespondenzen, unseres Mailwechsels, unserer Briefe, auf die Schliche gekommen bin? Hast du mich am Ende verwechselt, nicht nur mit deiner Mutter, sondern mit dir selbst? Würde das zu sagen nicht bedeuten, zu behaupten, die Identität würde schließlich alle Differenz tilgen?
Was meine ich also, wenn ich sage: Ich lege den Finger in die Wunde. Nicht deine Wunde, nicht meine. Auch nicht unsere. Und noch viel weniger die Wunde von allen.
Es gibt eine Wunde, die nun jetzt einmal – mehr oder weniger zufällig, mehr oder weniger bewusst – in unserem Kontakt aufgeklafft ist.
Ich habe auch eine Wunde, meine Wunde. Und du deine; aber das ist eine andere als die, in die ich meinen Finger lege.
Den Finger in die Wunde zu legen, bedeutet doch letztlich: die Differenz anzuerkennen – mit allem, was dazugehört. Du hast sie anerkannt, auf eine gewisse Weise. Aber du hast dich eben auch ausgenommen aus der Beschreibung dieser Differenz. Man kann die Wunde nicht beschreiben, indem man sie von sich weghält. Man muss den Finger in sie legen, sie berühren. Das Zittern, das Pulsieren spüren, das in ihr liegt.
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